BERN BRABEC DE MORI: Die Lieder der Richtigen Menschen. Musikalische Kulturanthropologie der indigenen Bevölkerung im Ucayali-Tal, Westamazonien. Innsbruck u a.: Helbling Verlag 2015. 781 S., Abb., Nbsp., DVD-ROM. (Helbling Academic Books. Musikwissenschaft.)

Rezension: Die Musikforschung, Heft 2016/4, 430-432.
 
Ich will es beim Auftakt klar und deutlich machen: dies ist ein wichtiges Buch - nicht nur im Gebiet der Musikethnologie. Es lohnt sich es zu bemerken, weil es nicht immer und überall anerkannt wird, dass ein wichtiger musikethnologischer Beitrag, auch für die anderen Wissenschaften der Musik häufig bedeutungsvoll sein kann. Der Grund dafür ist, dass die musikethnologische Ansicht so breit und weit geht, dass sie Grundfragen begegnet, die in den anderen Musikwissenschaften selten auftauchen oder sichtbar werden.

Das Buch von Bernd Brabec De Mori, Die Lieder der Richtigen Menschen, befasst sich mit der aktuellen Praxis von Vokalmusik, wie sie im Tal des Amazonasquellflusses Ucayali, im Osten Perus, von indigenen Menschen aufgeführt und verstanden wird. Es ist eine Fallstudie, eine Monographie, das Ergebnis einer Feldforschung die sich im Laufe vieler Jahren entwickelt hat und – sei es nebensächlich gesagt – eine der umfangreichsten Monographien die wir in der anthropologischen Literatur zur Zeit haben. Ich schätze dieses Werk als vergleichbar – in Grösse und Bedeutung – mit Evans-Pritchards klassischem Witchcraft, Oracles and Magic among the Azande (1937). Fangen wir jetzt mit dem Titel an, wobei zwei Bemerkungen zu machen sind.

Zum ersten: es handelt sich hier um „Lieder“, weil der Autor nur den abendländischen Begriff „Lied“ verwenden konnte, um sich verstehbar zu machen. Aber die Indigenen aus dem Ukayali-Tal, haben keinen allgemein Begriff von „Lied“, sondern spezifische Begriffe für unterschiedliche vokale „Aktivitäten“ die – in ihrer Kultur – keine Verwandtschaft miteinander zeigen. Auch der Begriff „Musik“ ist bei den „Richtigen Menschen“ nicht bekannt. „Musik“ oder „Tonkunst“, ist nur eine abendländische Kategorie, die in den meisten Kulturen (und Sprachen) der Welt unbekannt bleibt. Anders gesagt, überall ist Klang bei Menschen sozial verwendet, aber er wird nicht überall als „musikalisch“ verstanden oder kategorisiert. Was den Gesang betrifft, ist er in vielen Ländern als eine Art von Rede oder Anrede betrachtet. Es sieht ziemlich komisch aus, vom Standpunkt dieser Kulturen, dass wir im Westen so viele unterschiedliche Klang-Aktivitäten unbedingt unter einem und denselben Dach bringen wollen (eine Art Schleieretikette die die Komplexität der Wirklichkeit verbirgt, statt aufzuzeigen). Darum schrieb einmal Christian Kaden: «Es scheint mithin, als gehöre es zur Logik und Mentalität des Abendlandes, möglichst vieles auf einen Oberbegriff und unter einen Hut zu bringen. … Besondere Not bereitet den westlichen Musikologen, dass die nicht-europäischen Kulturen für ‹Musik› vielfach kein eigenes Wort haben. Von ‹Tanzen›, ‹Singen›, ‹Spielen› können sie berichten, auch von einem ‹Singen & Tanzen›, von der Hervorbringung klanglicher Ereignisse, die nur verstanden werden, wenn man sie auch erspürt und sieht. Aber einen Dachbegriff, eine übergreifende Abstraktion prägen sie nicht aus, oder nur zögerlich.» (Kaden 2004:19). Zum zweiten: der Ausdruck „Die richtigen Menschen“ erinnert uns wie ethnozentrisch die Kulturen der Welt immer waren und heute noch sind. Zahlreiche Namen, welche die Stammkulturen tragen (z.B. Zuni, Déné, Kiowa, Inuit, Sami, usw.), bedeuten nichts anderes als „Die richtigen Menschen“! Wer ausserhalb des Stammes existiert kann, der ethnozentrischen Ansicht nach, als kein wahrer Mensch betrachtet werden!

Was Bernd Brabec De Mori im Ucayali-Tal geleistet hat, ist eine wahre teilnehmende Beobachtung, ausgedehnt und intensiv wie selten in der Praxis der Musikethnologie. Er wollte die Bevölkerungen im Ucayali-Tal so verstehen wie sie heute sind. So gibt er uns das Bild vielerlei völlig zeitgenössisch erlebten Kulturen: und er macht klar dass die heutige Stammkulturen nicht unbedingt so sind wie sie einmal waren (sie sind keine gefrorene Spuren der Vergangenheit). Heute stellen sie das Ergebnis ihrer Reaktion, Ablehnung, oder Einwilligung zahlreicher Verhandlungen mit der äusseren Welt dar. Aus diesem Grund hat der Autor auch Informationen historischer Natur gesammelt. Die kulturelle Anthropologie, und die Musikethnologie, sind heute nicht mehr anti-historisch (wenigstens seit Edward E. Evans-Pritchard sein Plaidoyer, Anthropology and History, in 1961 veröffentlichte). Nur interessiert es die Musikethnologie in erster Linie zu verstehen, wie die Kulturen heute funktionieren – und es kann auch sein dass Kenntnisse über die Vergangenheit darum helfen können (aber nicht unbedingt; weil in der Entwicklung der Kulturen gibt es nicht nur Kontinuitäten, sondern auch oft Diskontinuitäten – was Historiker ziemlich ungern anerkennen).

Historische Musikwissenschaftler die diese Rezension lesen werden, interessieren sich vermutlich nicht spezifisch für ethnographische Ereignisse. Darum werde ich hier eine rein musikalische Besonderheit besprechen die mich unter vielen anderen beeindruckt (so ein grosses Werk ist in einer kurzen Rezension leider kaum zusammenzufassen). Was mich besonders fasziniert hat, ist die Komplexität der Gesänge (das Buch enthält viele Beispiele davon; zusätzlich zu den Transkriptionen gibt es auch einen CD-DVD). Komplexität im Gesang der Richtigen Menschen heisst natürlich nicht, dass solche Gesänge vergleichbar sind mit, zum Beispiel, Richard Wagners Wesendonk Lieder. Es gibt in der „Musik“, wie wir sie im Abendland nennen, enorm unterschiedliche Formen der Komplexität die Judith Becker einmal deutlich erklärte: «Complexity is not intrinsic to the music itself; it is the relation between the sophistication of the intent of the player, the musical performance, and the sophistication of the reception by a listener. Accidental variation, even though infinite, does not count. Skill does. Calculated, deliberate alteration of pitch, duration, rhythm, overtone structure (tone quality) attack, or release according to prescribed costraints creates a kind of complexity in a single line which is as demanding of the artist as any single passage in a Beethoven Simphony.» (Becker 1986:347). Hier, bei den „richtigen Menschen“ (wie einmal Johann Mattheson über Handel sagte), «jeder Ton zählt», wie zum Beisbiel auch bei Louis Armstrong oder Jimy Hendrix – wo auch eine einzelne Note ein wahrer  Meisterwerk sein kann.

Ich habe dieses Buch bis jetzt nur gelobt. Enthält es aber alles was man sich wünschen könnte? Natürlich nicht, und nicht nur weil Bernd Brabec De Mori vom Standpunkt der Ucayali-Tal Indianer kein „richtiger Mensch“ ist! Kein Mensch, „richtig“ oder „unrichtig“, ist je in der Lage alle Fragen zu beantworten. Brabec De Mori hätte vielleicht in seiner Studie deutlicher klar machen sollen, dass was die Eingeborenen des Ucayali-Tal musikalisch charakterisiert nicht total einzigartig ist, und man es deshalb nicht nur bei ihnen vorfindet. Musikalische Gattungen, Aufführungspraxis, ästhetische Einstellungen, usw., über die wir in diesem Buch lesen können, können wir auch bei anderen Stammkulturen begegnen. Einige davon bei den Waanga in Australiens Arnhem Land, andere in Nord Amerika bei den Zuni, Navajo, Arapaho, usw. Schade dass in den Wissenschaften der Musik – auch in der Musikethnologie – die vergleichende Dimension heutzutage relativ wenig beachtet wird.

Jedenfalls, dieses Buch ist eines das in keiner musikwissenschaftlichen Bibliothek fehlen sollte, und ich hoffe sehr, dass man es auf Englisch übersetzen wird. Es ist nicht nur eine unentbehrliche Lektüre für Wissenschaftler die sich mit der Musikethnologie befassen, sondern auch eine empfehlenswerte Lektüre für Musikwissenschaftler im allgemeinen, und nicht zuletzt, auch eine spannende Bereicherung für alle gebildeten Leute die über die soziale Verwendung des Klanges bei Menschen etwas lernen wollen. Besonders wichtig, meiner Meinung nach, wäre dass historische Musikwissenschaftler die im Abendland so vertieft sind, auch solche äussereuropäische Beiträge beachten würden. Wieso dies wünschenswert wäre, hat Jean-Jacques Nattiez einmal erklärt, als er gefragt wurde, wie er gleichzeitig Wagner, Boulez und die...Inuit aus Kanada erforschen konnte. Seine Antwort war (witzig und zur gleichen Zeit seriös): „parce que c'est la même chose!” (Nattiez 2007: 72). Ich würde es anders ausdrücken: wo auch immer Menschen irgendeine Art oder Form des Klanges verwenden, und irgendwie solche Formen des Klanges bedeutungsvoll machen, ist für alle Musikwissenschaftler immer wichtig zu beobachten, verstehen und würdigen.

 

Literatur

Becker, Judith. "Is Western Art Music Superior?", Musical Quarterly, LXXII(1986), pp. 341- 59.
Evans-Pritchard, Edward E.  Witchcraft, Oracles and Magic among the Azande (1937).  (1937). Oxford University Press USA, 1976.
Kaden, Christian. Das Unerhörte und das Unhörbare. Was Musik ist, und was Musik sein kann. Kassell: Bärenreiter/Metzler, 2004.
Nattiez, Jean-Jacques. Profession Musicologue. Montréal: Les Presses de l'Université de  Montréal, 2007.