"Siehst du, das ist auch ein Fortschritt, du hast zugelernt. Bisher hast du alle diese Tanz-
              und Jazzmusik nicht leiden können, sie war dir zu wenig ernsthaft und tief, und nun
              hast du gesehen, dass man sie gar nicht ernst zu nehmen braucht, dass sie aber sehr
              nett und entzückend sein kann." (Hermann Hesse, Der Steppenwolf)

 

 

 

Ungeliebte Musik hören um andere Welten zu verstehen

 

 

Jedes Mal dass ich die Gelegenheit hatte, Teenager zu fragen, welche Art von Musik sie gerne hören war die Antwort stets gleich: “Von allem”. Leider stimmte dies nie. In jenem “von Allem” war nämlich 99% der Musik dieser Erde nicht enthalten. In jenem “Allem” gab es weder einen Bach, noch einen Mozart und keinen Brahms. Nicht einmal Duke Ellington, Miles Davis oder Charlie Parker kamen vor, weder ein Winton Marsalis noch ein Philip Glass. Schon gar nicht die Musik anderer Kontinente (Gamelan von Java und Bali, Kroncong und Jaipongan vom übrigen Indonesien, das japanische Gagaku, das persische Radif, die Traditionelle Musik Südamerikas, Chinas und Südostasiens, von Ozeanien usw.).

Es ist auffallend wie leicht es ist, sich als musikalischen Allesfresser zu bezeichnen (das glauben übrigens von sich nicht nur die Jugendlichen), obwohl man sich in Wirklichkeit nur von kleinen Resten ernährt, die aus den am leichtesten zugänglichen musikalischen Großgruppen stammen: Klassische Musik, Jazz, Pop-Rock aus Abendland, World-Music afro-amerikanischer Herkunft. Es ist schon viel, wenn man einmal an diesem Punkt angelangt ist. Die beschränktesten in der Breite des Musikgeschmacks, meiner Erfahrung nach, oft sind gerade die Musiker. Vielmehr als wirkliche “Musikliebhaber” sind sie meistens Liebhaber der Musikart, die sie selber ausüben, unter Ausschluss fast der ganzen übrigen Musik. Wer kein Musiker ist, beschränkt sich oft, mit wenigen Ausnahmen, auf das Musikhören in jenen zwei oder drei Bereichen, die ihm am meisten liegen. Eine wahre Seltenheit sind Personen, die sich die Mühe machen, weiter zu gehen, und Musik auszukosten, die ihnen nicht gefällt. Das finde ich nicht nur lobenswert, aber auch eine große Bereicherung. Dabei möchte ich aber mit dieser Aussage nicht die puritanische Vorstellung aufgreifen, nach der “alles erlaubt ist, Hauptsache es bereitet kein Vergnügen”.
Ich möchte hingegen folgende Ansicht vertreten: sollten wir in der Musik nicht nur angenehme Reize für das Ohr oder Empfindungen wie auf der Achterbahn suchen, sollten wir vielmehr die Musik als Gelegenheit zum Erkenntnisgewinn anerkennen, als einen Prozess durch den wir Wissen über andere Menschen erwerben (und durch die anderen lernen wir letzendlich uns selbst besser kennen), dann bedeutet das alleinige Genießen der Musik, die uns gefällt, in einem Gefängnis leben zu wollen. Die Musik, die wir lieben, legt uns auf einen bestimmten Zeitraum und einen gesellschaftlichen Bereich fest (Westen, Nation, Gesellschaftsschicht, Minderheitengruppe, usw. ). Und aufgrund ihrer gesellschaftlichen Einordnung gibt es keine Musik und kann es keine geben, die immer allen gefällt.

Anders ausgedrückt, wenn uns eine Musik gefällt, wird ihre gesellschaftliche Bedeutung durchsichtig, d. h. wir sehen sie nicht mehr. Und an dem Punkt ist das Musikhören unter dem Aspekt des Erkenntnisgewinns reine Zeitverschwendung. Untersuchen wir die Gründe, warum uns eine bestimmte Musik anzieht, finden wir immer auch zwar nicht gerade Gemeines, aber doch etwas weniger Edles: den Wunsch, einer Gruppe anzugehören oder, um es mit Bourdieu zu sagen, uns mittels des “Geschmacks” von den anderen abzuheben. Das einzig wirklich edle Verhalten, das uns wieder erhöht, ist das Hören der ungeliebten Musik, jene der Anderen. Denn das bedeutet, aus unserer Schale heraus zu kommen, aus unserem Habitat herauszutreten und das Milieu der Gleichgesinnten zu verlassen. Das bedeutet, anderen zu begegnen, wobei die Begegnung Einsatz verlangt, und in eine symbolische Welt zu treten, die sich mit ihren Klängen darstellt.

 

Mein Vorschlag scheint auf dem ersten Blick, wie ich bereits oben geschrieben habe, fast puritanisch oder geradezu masochistisch zu sein. In Wahrheit ist das Gegenteil der Fall. Die wahre Selbstkasteiung besteht nämlich darin, sich selbst des nützlichsten Instruments zu berauben, mit dem es gelingt, die menschlichen Wesen zu verstehen, die anders sind als wir; jene, welche die Welt anders sehen, weil sie kulturell anderswo angesiedelt sind. Da kann man lange sagen, und wir tun es oft, wir seien weder rassistisch noch fremdenfeindlich. Das können wir erst dann behaupten, sobald wir bereit sind, mit Hilfe der Musik in die Gedankenwelt der Menschengruppen einzutreten, die uns kulturell fern sind, indem wir uns ihrer Sichtweise der Welt nähern, gerade mit der von uns ungeliebten Musik. Aus diesem Grund bekomme ich die Vorahnung, dass ich und all jene, welche mit mir in die Hölle kommen, dort ewig mit der von uns geliebten Musik berieselt werde. Jene Musik, die uns problemlos widerspiegelt und die dem entspricht, was unser kleines Bezugsmilieu zu sein ermöglichte. Alles Werden wird somit verwehrt bleiben – endgültig! Wir werden in Ewigkeit auf das Wenige beschränkt bleiben, das wir erreicht haben, ohne die Hoffnung darauf, dass uns eine widerwärtige Musik aus unserer Nische hervorholt und uns hinführt zum Verständnis der vielen anderen möglichen Arten des Menschseins.

 

Schweizer Musikzeitung, 15. Jahrgang, Juni 2012, S. 21