Klangzentrierte, klangergänzte, klangverstärkte Tätigkeiten
Es hilft nicht viel, dass wir ein Lied von Robert Franz als ‹Musik› bezeichnen, und dann auch eine von Nino Rota geschriebene Partitur für den Film La dolce
vita, ein Klagelied aus Sardinien, ein Choralgesang der Mbuti Pigmäen oder ein geistliches Lied, in das sich tibetische Mönche während der Meditation vertiefen, usw. Wenn wir solche Vorfälle
betrachten, sollten wir eine andere Frage stellen: Was ist hier los, was eigentlich passiert hier? Welche gesellschaftlichen Wechselwirkungen bestehen hier? Was ich soeben erwähnt habe, sind
unterschiedliche Tätigkeiten, die auf verschiedene Zwecke zielen: Robert Franz wollte durch die klangliche Bearbeitung einer Dichtung vermutlich seine Gefühle ausdrücken, Nino Rota ging es darum,
die emotionalen Situationen des Drehbuchs von Fellini zu unterstreichen, die Pigmäen wollen den egalitären Charakter ihrer Gesellschaft im Gesang symbolisieren, die tibetischen Mönche wollen
meditieren usw. Diese Vielfalt ist auch der Grund, weshalb man heute auf English von ‹musics› (in der Mehrzahl) reden kann. Aber reicht es zu sagen, dass die ‹Musik› in den verschiedenen Kulturen
jeweils anders erscheint, weil sie dort unterschiedliche Funktionen erfüllt? Reicht es zum Beispiel, mit Heinrich Besseler, zwischen Umgangsmusik und Darbietungsmusik zu unterscheiden? Oder, wie
Alois Riegl, einer Tonkunst, bei der wir das Kunstwollen erkennen, eine künstliche Tätigkeit gegenüberzustellen, die ein solches Kunstwollen nicht erkennen lässt? Es hilft, denke ich, es genügt
aber nicht. Forschung braucht Begriffe, die uns helfen, die Vielfalt der Realität besser einschätzen zu lernen, nicht diese zu verbergen. Wie kann ich das verdeutlichen? Viele Werkzeuge und
Gegenstände sind aus Stahl gefertigt: die Gabel, die Schlüssel, die Seiten des Klaviers, usw. Um unsere Welt zu verstehen, brauchen wir den Begriff ‹Gabel›, und auch die Begriffe
‹Schlüssel› oder ‹Seiten›. Es wäre keine gute Idee, diese Objekte nur als Formen des Stahls zu sehen – weil sie völlig unterschiedliche Funktionen erfüllen.
Wen man ein Wort verwendet, beziehungsweise einen Begriff, den man nicht definieren kann, besitzt man damit kein wissenschaftliches Werkzeug um mehr Erkenntnis zu
erwerben. Wenn man nach einem Gegenstand fragt («was ist ein Tisch?») oder nach einer Abstraktion («was sind soziale Fakten?»), so erwartet jedermann als Antwort darauf eine Definition, die
Grenzen, Umfang, Bestandteile und Merkmale umfasst und eine Abgrenzung gegen das, was nicht Tisch ist, oder soziale Fakten sind. Mit dem Wort ‹Musik› können wir das nicht tun.
Das Problem besteht für mich darin, dass das Wort ‹Musik›, so unwissenschaftlich es ist, starke Wurzeln in unserer Tradition hat. Also schlage ich hier nicht
wirklich vor, dass wir dieses Wort im Alltagsleben fallen lassen; es ist nicht wegzudenken. Ich möchte uns alle aber darauf aufmerksam machen, dass ein solch umfassender Begriff wie ‹Musik› uns
daran hindert, die Umstände besser zu verstehen, wie Menschen überall durch Klang Wechselwirkungen irgendeiner Art herstellen können und wollen.
Doch was den Alltag betrifft, so gibt es vielleicht auch einen moralischen Grund, weswegen wir dort noch immer von ‹Musik› reden sollten: Wenn wir das Wort ‹Musik›
nur für einige Traditionen des Abendlandes verwenden (z.B. die Tonkunst, wo man Kunstwollen erkennt), dann könnte man irrtümlich vermuten, dass die anderen Kulturen der Welt nicht gut genug sind,
etwas Gleichwertiges zu schaffen. Und das wäre doch etwas überheblich. Aber für die wissenschaftlichen Gemeinschaft schlage ich vor, nur von ‹klanglichen Wechselwirkungen› zu reden, von
klangzentrierten, klangergänzten, klangverstärkten Tätigkeiten. Manchmal ist Klang die Hauptsache, manchmal ist er eine Nebensache – und das wollen wir wissenschaftlich untersuchen. Manchmal ist
eine Gesellschaft der Überzeugung, dass einige ‹klangliche Wechselwirkungen› nur durch die Arbeit von einzelnen Menschen ausgeführt werden können. In dem Fall sprechen die Leute von Komponisten
oder Autoren; und sie sprechen von Kunst. Aber andernorts können klangliche Wechselwirkungen ganz anders betrachtet werden – ohne Komponisten, ohne Autoren, ohne ästhetischen Gehalt.
Tatsächlich gibt es in der uns bekannten Geschichte keine Gesellschaft, die in der Stille existieren konnte; es ist deshalb unwahrscheinlich, dass eine klanglose,
eine geräuschlose Gesellschaft biologisch möglich ist. Ich finde es bezeichnend, dass im Gilgamesch-Epos die Menschen gerade für Lärmerzeugung mit der großen Flut bestraft werden. War es wirklich
‹Lärm› oder vielleicht auch ‹Musik›? Die Frage ist eigentlich unwichtig. Das heißt: wie auch immer wir die Klänge unseres Lebens nennen wollen, sie werden nicht unbedingt allen Menschen (oder
Göttern) Freude bereiten. Im gegentail. Was auch immer unsere Klänge sind, was sie für uns bedeuten, was sie symbolisieren, kann immer gegen uns gerichtet werden. Das ist besonders dann der Fall,
wenn wir alle für uns bedeutungsvolle Klänge als ‹Musik› bezeichnen (eine bezeichnung die ein Werturteile enthält) und so vergessen, oder manchmal haben wir es beabsichtigt – dass was für uns
‹Musik› ist kann für andere Menschen etwas beunruhigendes sein, eine Störung, eine Beleidigung, oder sogar reiner Unsinn!
Um das Sinn des ‹Sinnes› oder des ‹Unsinnes› besser zu schätzen und verstehen, brauchen wir nicht mehr eine ‹Musikwissenschaf›,
sondern...‹Klangwissenschaften›...